Artikel und Berichte

Für die Tellington Magazin Ausgabe 22-2 „Rund um die Nase“

Unter Menschen gilt das Gähnen oft als unhöflich und als Ausdruck von Langeweile und Müdigkeit. Dabei kann Gähnen eine ganz wunderbare Sache sein! Beim TTouchen passiert es nicht selten, dass Tier oder Mensch plötzlich anfängt ausgiebig zu gähnen. Für uns Tellington-Menschen ist das, ähnlich wie das Schnauben, Schlecken und Augenblinzeln oft der release-Moment: „Ahja, jetzt passiert was, es löst sich“.

Zu Anfang eine Annäherung an das Gähnen aus neurowissenschaftlicher Perspektive: Laut der Polyvagalen Theorie nach Porges gibt es drei Zweige des autonomen Nervensystems. Den aktivierenden Sympathikus (gelb) und den deaktivierenden Parasympathikus, der sich in den dorsalen (rot) und ventralen Vagus (grün) aufzweigt. Auf der Abbildung könnt ihr anhand der Aktivierungskurve sehen, in welchem Zustand sich ein Säugetier, z.B. ein Pferd, befindet, wenn der ventrale Vagus aktiv ist. Es ist ruhig, sozial interagierend und der Muskeltonus ist niedrig. Das Pferd fühlt sich in Sicherheit und ist in seiner Komfortzone. In dem gelben Bereich ist der sympathische Zweig aktiv und sorgt für Erregung in Form von Bewegung, schnellerer Atmung, höherem Herzschlag. Hier ist alles möglich in dem Spektrum zwischen Flow/Spielfreude und panischer Flucht. Rot steht für den dorsalen Zweig des Parasympathikus. Hier ist die Gefahr so groß, dass die Situation aussichtslos erscheint. Statt Flucht- und Kampfreaktionen zeigt das Pferd kaum Regungen, wirkt wie versteinert (ihr kennt es sicher: Fight, flight, freeze!). Das Pferd ist zunehmend immobil, die Atmung ist flacher, der Herzschlag langsamer. Diese Reaktion ist eine Art Notbremse! Für die Aktivierung des dorsalen Vagus braucht es oft keine tatsächlich lebensbedrohlichen Reize, sondern „nur“ eine erlernte Hilflosigkeit oder die Erinnerung an traumatische Erlebnisse entsprechende Reaktionen hervorrufen.

Die Polyvagal Theorie

Im Pferdetraining bewegen wir uns dementsprechend optimalerweise zwischen grüner Komfortzone und gelber Aktivierung und versuchen hierbei im Bereich der Entspannung oder maximal des „positiven Stress“ zu bleiben.

Doris Semmelmann ( u.a. Somatic Experience  Practicioner) schreibt: „Aus Sicht des Nervensystems ist Mobilisierung etwas Gutes: wohltuend, gesund und zugleich beruhigend. Wenn wir als Reiter dem Pferd Bewegungen abverlangen, die im Rahmen der Sicherheit bleiben, helfen wir ihm, seinen Bewegungsdrang auszuleben, dabei Spannungen wahrzunehmen und abzubauen. Das Pferd wird dann über klare Signale wie Abschnauben, Seufzen, Lecken und Kauen oder Gähnen mitteilen, dass es von einem aktivierten Zustand in den grünen Bereich übergeht.“ 1

Das Gähnen ist hier also ein Anzeichen für einen Übergang zum grünen Bereich des ventralen Vagus, zur Entspannung. Ich finde es sehr wichtig Pferde (und andere Tiere & Menschen) dahingehend lesen zu lernen, in welchem Aktivierungszustand sie gerade sind. Es hilft ungemein, um Reaktionen zu verstehen und auch, dabei zu unterstützen wieder in angenehmes Gewässer zu gelangen.

Vor allem bei Pferden mit einem hohen Stresslevel oder traumatischen Erfahrungen können regulierende TTouches Wunder bewirken und das ein oder andere Gähnen entlocken.

Des Weiteren ist das Gähnen natürlich eine super Gesichtsgymnastik und kann Spannungen im Kiefer und Genick lösen. Ich möchte allerdings noch darauf hinweisen, dass Gähnen nicht immer per se Entspannung bedeutet und sehr häufiges Gähnen beim Pferd sogar eine Übersprungshandlung bei Stress, Unsicherheit oder Schmerzen sein kann. Hier kommt zu den klassischen Reaktionen bei Gefahr „Fight, Flight and Freeze“ das „Fooling around“. Letzteres kann sich auch durch Kopfschütteln, Scharren etc. ausdrücken.

Beobachte genau und lerne dein Tier lesen, du wirst sehen was für feine Signale es dir sendet. Wenn du unsicher bist, hole dir eine Freundin, deine Reitbeteiligung, eine Trainerin oder Tierkommunikatorin dazu und findet gemeinsam heraus, was in deinem Pferd vorgeht. Oder: Vertraue deiner Intuiton!

Dank unserer Spiegelneuronen und der Tendenz von Nervensystemen sich aneinander anzugleichen gähnen wir häufig gemeinsam. Fängt eine*r an, machen plötzlich alle mit, auch artübergreifend. Ich muss meist nur das Wort hören oder lesen, schon fange ich an. Wie oft hast du dich während des Lesens gerade schon zum Gähnen verleiten lassen?

Ich plädiere für eine gähnfreundlichere Kultur, in der man gemeinsam und beherzt gähnen kann. Und es funktioniert auch andersherum: Mein bewusstes Gähnen kann mein Nervensystem wunderbar regulieren, denn wie Linda so schön sagt: „Verändere die Haltung und du veränderst das Verhalten“

1 https://www.doris-semmelmann.de/polyvagal-pferde-3047/

Zwei Berichte nach meinem letzten Ausbildungskurs im Juli 2021

“Ich möchte gerne eine sehr spannende und lehrreiche Fallgeschichte mit euch teilen. Vor einigen Wochen auf dem #tellington Ausbildungskurs zum Thema #jungpferde auf dem Gestüt Kauber Platte arbeitete ich zusammen mit Jessica Stieler und Katja Rudrich mit dem Vollblutaraberhengst Ibn. Ibn ist 11 Jahre alt, Deckhengst und nicht angeritten. Wir durften 6 Tage ein bis zweimal täglich mit ihm nach der #tellingtonmethode arbeiten. Anfangs zeigte er sich sehr “machohaft” und “hengstig” – er stieg hoch und oft, schlug nach vorne aus, schnappte… Doch innerhalb weniger Einheiten sahen wir ein ganz anderes Pferd vor uns. Statt dem “Mackerverhalten” konnte er anfangen Emotionen -z.B. seine Unsicherheit- zu zeigen und lernen, damit umzugehen. Durch unsere Beständigkeit, unsere Ruhe (trotz anfangs hohem Puls!), dem TTouch®️ und der Arbeit im Lernparcours konnte er uns zuhören und dabei mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Am letzten Tag war ich echt mehr als beeindruckt was wir mithilfe der Tellingtonmethode bewirken konnten. Ibn ließ sich problemlos bremsen, wenden, anfassen und senkte auf Anfrage den Kopf mit offenem Genick. Er ging durch enge Gassen mit Plastikplanen, trug ein gegurtetes Barebackpad und konnte sich schnell wieder beruhigen, wenn doch mal etwas angsteinflößend war. Wir haben den Kerl alle ins Herz geschlossen und waren sehr dankbar, mit ihm diese Woche verbringen zu können!”

https://www.facebook.com/tellingtonttouchdeutschland/posts/4075102735921892

“Die Woche auf der Kauber Platte hat mir mal wieder gezeigt, warum ich diesen ganzen Tellingtonkram eigentlich mache. Nicht (nur) wegen den durchaus sinnvollen Führpositionen oder bestimmten Techniken beim #ttouch. In dieser Woche durfte ich erneut erfahren, was es bedeutet kongruent und #authentisch zu sein. Im Kontakt mit mir und anderen. Im Alltag merkt man oft gar nicht, was für eine Mauer man um sich baut. Bloß keine Emotionen wahrnehmen oder zeigen… Die Atmosphäre auf so einem einwöchigen #tellington Ausbildungskurs ermöglicht ein echtes Auseinandersetzen mit dem inneren Vorgehen. So viel #liebe#wertschätzung#feingefühl, Austausch und Körperlichkeit helfen (zumindest mir) wieder in die eigene Mitte zu kommen. In den Abschlussrunden wird dies immer besonders deutlich. Plötzlich weinen selbst die, von denen du das niemals erwartet hättest. Dieses Weinen ist so echt und wertvoll, es zeigt wie berührt wir von besonderen Momenten mit Pferd und Mensch sind. Ich bin sehr dankbar Teil dieser Gemeinschaft zu sein und freue mich auf viele weitere tränenreiche Abschlussrunden voll Authentizität.”

https://www.facebook.com/tellingtonttouchdeutschland/posts/3914944768604357

Artikel für die Tellington Magazin Ausgabe 21-1 „Weniger ist mehr“

„Ich und viele andere TTouch Praktizierende haben die Erfahrung gemacht, dass Berührungen besonders tief gehen, wenn sie sanft sind. Leichte Druckstärken beim TTouch fördern durch die ungewohnten Berührungen das Bewusstsein für den Körper. Dies hilft besonders um aus ungünstigen Verhaltens-, Haltungs- und Bewegungsmustern herauszufinden. TTouch mit geringer Druckstärke gibt unseren Körpern und Seelen die Chance, sanfte Berührungen zu erfahren, wahrnehmen zu lernen und zu genießen. Was gibt es schöneres als sanfte Kinderhände, die einen Waschbär-TTouch in deinem Gesicht machen? Oder ein Tier, das Traumata erlebt hat, mit leichten Lama-TTouch berühren zu dürfen?

Wenn ich meinen Freund*innen und Familienmitgliedern mit TTouch for you etwas Gutes tue, höre ich oft „Mehr Druck bitte“ oder „Ich spüre da jetzt nichts“, aber auch die Frage, warum ich so wenig Druck verwende. Deshalb habe ich mir angewöhnt zu erklären, dass TTouch nicht wie eine herkömmliche Massage auf Ebene der Muskeln wirkt, sondern das Hauptziel die Unterstützung der zellulären Funktion und Kommunikation ist. Des Weiteren geht es um bewusste Körperwahrnehmung, Achtsamkeit und Beeinflussung des autonomen Nervensystems. Hinzu kommt, dass bei sanften, liebevollen Berührungen das Wohlfühl- und Vertrauenshormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Sehr oft fällt bei diesen Erklärungen der Ausdruck „Weniger ist mehr“. Ich empfehle dann oft, sich auf den leichten Druck einzulassen und ganz fein hinzuspüren. Der Druck kann dann immer noch nach bei Bedarf erhöht werden.
Durch die leichten Druckstärken und die gezielte Aufmerksamkeit für die Berührung ist man sozusagen dazu gezwungen, sich mit dem eigenen Körper zu verbinden und genau hinzuspüren. Dies ist eine völlig andere Selbsterfahrung als eine klassische Massage, die man eher passiv über sich ergehen lässt. Womöglich hat man dabei große Schmerzen, aber wir haben ja gelernt, dass es weh tun muss. Hierbei sei gesagt, dass zum Beispiel gute physiotherapeutische Massagen natürlich ihre Berechtigung und erwiesene Effektivität haben. Es geht mehr darum, zu wissen, dass es auch anders geht. Vor allem bei chronischen Beschwerden und Traumata macht es Sinn, die Angst auf der Ebene der Zellen zu lösen und nicht durch eine schmerzvolle Massage die Angst zu verstärken.
Linda wurde bei der Entwicklung der TTouch Körperarbeit durch die Feldenkrais-Methode inspiriert. Auch hierbei geht es darum, nicht über Druck, Kraft und Schmerz in bestimmte Haltungen zu kommen, sondern stets eine liebevolle, sanfte Verbindung zum Körper zu haben. Das Gleiche gilt für TTouch an Menschen und Tieren.
Je nach Tierart können Tiere sehr präzise Feedback über die richtige Druckstärke, Geschwindigkeit etc. geben. Pferde beispielsweise, die erfahren haben, dass man ihnen zuhört, kommunizieren dies deutlich über Körpersprache und Verhalten. Oft haben sie jedoch durch häufiges ‚geklopft‘ werden (immer noch ein Ding in der Reiterwelt!), starkes Putzen oder schlimmstenfalls geschlagen werden gelernt, Berührung auszuhalten. Doch wie wir alle wissen: Pferde spüren eine Fliege auf der Haut. Sie werden auch einen TTouch mit Druckstärke 1 wahrnehmen und dankbar sein für diese wohltuende Sanftheit.
Vorlieben für Druckstärken sind Typsache und können je nach Persönlichkeit, Sozialisierung und Erfahrungen variieren. Die Auswahl der passenden Druckstärke ist durch Intuition und Erfahrung geprägt und sollte immer individuell je nach Situation, Körperstelle, Sensibilität und Größe des Tiers/Menschen getroffen werden. Knöcherne Bereiche sind durch die Knochenhaut berührungsempfindlicher, sodass hier weniger Druck angebracht ist. Menschen können natürlich auch immer gefragt werden, welche Druckstärke sie gerade angenehm finden. Ganz nebenbei kann hierdurch Konsens geübt und praktiziert werden, was für zwischenmenschliche Beziehungen und die gesamte Gesellschaft unglaublich heilsam ist und eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Laut Linda macht die Druckstärke Skala von 1 bis 10 immer noch Sinn, auch wenn inzwischen nur 1 bis 5 wirklich angewandt wird und nur in ganz seltenen Ausnahmefällen bis zur 10 gegangen wird. Bei Hunden und Pferden wird meist zwischen 1 und 4 gearbeitet. Bei stark bemuskelten, verspannten Pferden eignet sich oft eine 3 mit Schwamm-TTouch, um die Blutzirkulation anzuregen. Zu Beginn kann man mit einer 2 oder 3 starten. Zu leichte Berührungen am Anfang können auch verunsichern oder kitzeln. Bei Katzen geht man meist nicht höher als 2, da sie oft sehr sensibel sind.
Dieser Artikel ist eine Liebeserklärung an sanfte Berührungen und TTouch mit geringen Druckstärken. Schon oft konnte ich so meine Zuneigung und Liebe zeigen, denn wie Linda immer sagt: „Lege dein Herz in deine Hände und deine Hände auf das Pferd.“